REISE UND ERHOLUNG | Dienstag, 13. März 2001 |
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Deutsches Recht kennt keinen Schmerz
Eschede, Concorde, Kaprun: Kein Schmerzensgeld für Hinterbliebene – die Reisebranche diskutiert über Schadenersatzrecht und Krisenmanagement
Als Prinzessin erstreitet man sich schon mal 180 000 Mark Schmerzensgeld vor einem deutschen Gericht. Wenn etwa, wie im Fall Caroline von Monaco, die Illustrierte Bunte mit einem erfundenen Interview die Persönlichkeitsrechte der Prinzessin verletzt. Auf eine Entschädigung dieser Größenordnung dürfen die Hinterbliebenen der Opfer von Eschede oder Kaprun nicht hoffen: Deutschland und Österreich kennen anders als viele europäische Länder und vor allem die USA kein Schmerzensgeld für den Verlust eines Angehörigen.
Der Unmut darüber wächst. Es geht nicht darum, sich den seelischen Kummer bezahlen zu lassen, stellt die Berlinerin Heike Weisner klar, die ihren Bruder 1996 beim Absturz der Birgenair-Maschine vor der Dominikanischen Republik verloren hat. Doch für sie hat sich durch seinen Unfalltod das ganze Leben von einem Tag auf den anderen verändert. Sie stand ihrer Schwägerin zur Seite, eigene berufliche Pläne, für die ihr angesichts der Tragödie Kraft und Zeit fehlten, stellte sie zurück. Um dem Unglück einen Sinn zu geben, gründete Heike Weisner mit ihrem Mann und anderen Angehörigen der Birgenair-Opfer 1997 den Verein Echo Deutschland (www.echo-deutschland.de). Die Mitglieder entwickeln Strategien, wie Angehörige von Absturzopfern besser versorgt und betreut werden können.
Die schnöde Behandlung der Hinterbliebenen kritisieren inzwischen auch viele Juristen. So diskutierten kürzlich auf der Internationalen Tourismus-Börse (ITB) in Berlin Experten der Deutschen Gesellschaft für Reiserecht die Gesetzeslage und forderten die Angleichung an internationale Standards. Dass sich die Reiserechtler mit Schadenersatz und Schmerzensgeld befassen, ist alles andere als ein Zufall: Die europäische Tourismus- und Freizeitbranche hat im vergangenen Jahr mit dem Concorde-Absturz, dem Fährunglück vor Paros und dem Brand von Kaprun eine veritable Katastrophenserie erlebt. Und die Zugunfälle von Eschede und Brühl sind juristisch auch noch nicht abgewickelt.
Selbst in den Reihen der Reiseunternehmen wächst die Erkenntnis, dass die bestehenden Gesetze unzulänglich sind. Thomas Gehlen, Geschäftsführer des Jugendreiseunternehmens RUF Reisen, das im vorigen August durch das von einem Lkw-Fahrer verursachte schwere Busunglück bei Linz betroffen war, findet es unbefriedigend, dass es keine Handhabe für Schmerzensgeldansprüche der Hinterbliebenen gibt. Kompensation ist in Österreich ebenso wie in Deutschland nur für materielle Schäden wie etwa Krankheitskosten oder den Verdienstausfall eines Ernährers vorgesehen, nicht aber für den seelischen Schmerz.
Kein Wunder, dass Betroffene versuchen, ihre Forderungen vor amerikanischen Gerichten durchzusetzen, wo immer sich ein juristischer Ansatzpunkt dafür finden lässt, etwa durch eine amerikanische Niederlassung des Prozessgegners. Hinterbliebene der Unfälle von Eschede und Kaprun haben diesen Schritt vor kurzem angekündigt, und auch einige Angehörige von Concorde-Opfern wollen eine amerikanische Jury anrufen. Diejenigen der vom Concorde-Absturz Betroffenen, die ihre Ansprüche in Frankreich geltend machen, können nach dortigem Recht ein Schmerzensgeld in niedriger sechsstelliger Höhe erwarten.
Auch der vom Bundesjustizministerium vorgelegte Entwurf für die Reform des Schadenersatzrechts werde die Lage der Hinterbliebenen nicht verbessern, meint Professor Armin Willingmann von der Hochschule Harz in Berlin. Ab 2002 soll in mehr Fällen als bisher Schmerzensgeld gezahlt werden. Eine Entschädigung für das seelische Trauma von Angehörigen ist aber nicht geplant. Willingmann hofft jedoch, dass sich der Gesetzgeber noch besinnt und ein Schmerzensgeld für Hinterbliebene einführt. Dies könnte, so der Schadensrecht-Experte, wie in anderen europäischen Ländern auf einen Pauschalbetrag begrenzt werden.
In der Schweiz zum Beispiel werden bis zu 30 000 Franken Schmerzensgeld an Angehörige gezahlt, in Großbritannien 7500 Pfund. Beträge von 550 000 Mark pro Opfer, wie sie der Anwalt der Interessengemeinschaft der Eschede-Geschädigten von der Bahn vergebens gefordert hat, halten viele Juristen für überhöht. Willingmann erinnert daran, dass in den USA das Haftpflichtrecht die unzureichende Sozialversicherung ausgleiche; die dort üblichen Entschädigungen seien mit europäischen Maßstäben nicht vergleichbar.
Aber nicht nur das veraltete Schadenersatzrecht hat nach den Katastrophen der jüngsten Zeit Kritiker auf den Plan gerufen. Der Concorde-Absturz hat einmal mehr deutlich gemacht, welche Defizite die Reiseveranstalter im Krisenmanagement haben, sei es in technisch-logistischer Hinsicht oder bei der Betreuung der Angehörigen. So dauerte es Stunden, bis das Auswärtige Amt bei der Reederei Deilmann, die die Unglücks-Concorde gechartert hatte, telefonisch eine Namensliste der Opfer anfordern konnte: Die Leitungen des Veranstalters waren durch Anrufe von Angehörigen und Medien erst einmal blockiert. Familien von Concorde-Opfern fühlten sich durch ellenlange juristische Formulare, die sie für Air France ausfüllen mussten, drangsaliert. Ähnlich lauten die Klagen von Eschede-Hinterbliebenen, die auf Heller und Pfennig den Wert von beschädigten Schmuckstücken der Unfallopfer belegen sollten. Immerhin hat die Bahn durch die Berufung eines neutralen Ombudsmannes mehr Feingefühl im Umgang mit den Angehörigen gezeigt als andere Unternehmen.
Ausgefeiltes Krisenmanagement vom betriebsinternen Alarmplan bis hin zur psychologischen Betreuung, wie es RUF bei dem Busunglück besaß und einsetzen konnte, ist in Reiseunternehmen nicht selbstverständlich. Vor allem den mittleren und kleinen Veranstaltern will nun die Versicherungswirtschaft auf die Sprünge helfen. So stellte der Branchenspezialist Touristik Assekuranz Service den Veranstaltern auf der ITB in Berlin sein neues Produkt Crise Assist vor: Im Unglücksfall sollen die versicherten Unternehmen alle nötige Unterstützung erhalten. Für die Betreuung von Angehörigen können Call Center und Psychologen hinzugezogen werden, für die Medienarbeit werden PR-Profis engagiert.
Ob aber eine Krisenversicherung die beste Lösung ist, wird bezweifelt. Die Versicherung zielt in erster Linie darauf ab, den Schaden, auch den Imageschaden, für das betroffene Reiseunternehmen zu minimieren. Der Frankfurter Rechtsprofessor Ronald Schmid, der Concorde-Hinterbliebene vertritt, sprach sich in Berlin dagegen aus, die Regulierung den Anwälten zu überlassen, weil sie selten kundenorientiert, sondern allein nach rechtlichen und versicherungstechnischen Überlegungen und vor allem schematisch vorgehen. Juristen sollten seiner Meinung nach bei der Betreuung der Opfer und Angehörigen, solange es geht, im Hintergrund bleiben.
Zudem sollte ein Reiseveranstalter nicht nur unmittelbar nach einem Unfall, sondern auch später noch eine aktive Rolle spielen und den Opfern und Angehörigen ständige Hilfe anbieten, so Schmid. Die Psychologin, die die Treffen der Birgenair-Hinterbliebenen betreut, wurde im ersten Jahr noch vom Reiseverstalter Öger Tours finanziert. Seither müssten die Familien aber selbst die Kosten tragen, berichtet Heike Weisner von Echo Deutschland. Dabei zeigt die hohe Beteiligung an diesen Zusammenkünften, dass ein Unglück wie der Birgenair-Absturz auch nach fünf Jahren noch nicht verwunden ist.
Monika Peichl